Status und Struktur

Der Wegfall der Erwerbsarbeit ist Befreiung und Herausforderung zugleich. Es fällt Struktur weg und es erodiert Bedeutung.

Beides lässt sich ersetzen. Männer machen Sport, Frauen hüten Enkelkinder (oder auch umgekehrt). Männer drucken Visitenkarten, Frauen suchen Gemeinnutz (oder auch umgekehrt). Man erwischt sich beim Suchen, und der Preis, für den man sich anbietet, sinkt. Man kennt sich nicht wieder. Oft leidet Genussfähigkeit unter Grenzenlosigkeit. Aber Hader und Neid steht Rentnern nicht.

Was schwerer wiegt, Strukturverlust oder Bedeutungsverlust? Das hängt wohl davon ab, womit uns unser Leben davor verwöhnt und woran es uns eher knapp gehalten hat.

Bedeutsam, wenn nicht gar bedeutend zu sein – über das enge familiäre Umfeld hinaus -, das war für die Männer meiner Herkunftsfamilien wesentlich.
Wer in der Lage gewesen war, seine Expertise auch ausserhalb eines Angestelltenverhältnisses zu Markte zu tragen, kann den Bedeutungsverlust durch ein langsames, schrittweises Niederlegen seiner Mandate abfedern. Wer aber gewohnt war, Status und Struktur von einem Arbeitgeber (gerne dem Staat) zu beziehen, sieht sich mit Eintreten des Rentenalters den erhöhten Risiken eines Pensionierungsschocks ausgesetzt.

Ich bin bis jetzt mit ein paar hypochondren Anwandlungen, aber doch ohne Herzinfarkt davongekommen. Entgegen kommen mir dabei die jungen Jahre, die wir in den Neuen Menschen investierten: nonbinär, leistungskritisch, ehrgeizverweigernd. Meistens, nicht immer, kann ich da anknüpfen. Und die Gemütsschwankungen, die die Befreiung von Erwerbsdisziplin freisetzt, sind mir Preis und Prämie zugleich.

Bin ich der, der zu sein ich glaubte?

Mein Antrieb, schöpferisch zu sein, hat unter 40 Jahren Dienst am Wohlfahrtsstaat stärker gelitten, als ich das für möglich gehalten hätte.

Obwohl mich eine gute Altersvorsorge auch extrinsischer Motivation weitgehend beraubt, so bin ich doch dankbar, in einem System zu leben, das solch stete Treue honoriert. Ich hätte auch das bis vor kurzem nicht geglaubt.

Es ist mir nicht … aber bin ich nicht mir etwas langweilig geworden?

Grossvater

Er kündigte sich an, als ich kaum die Schwelle 60 hinter mir gelassen und mich mit dem Gefühl zu versöhnen begann, das sich aus wenig Vernunft und vielen Bildern zusammensetzt, alten Bildern, alten Bildern des Alters. 60jährige waren in meinen Kinderaugen schwarz gekleidet, hatten einen Hut auf dem Kopf und gingen am Stock. 

Nun lächelt mich Camille schon an, und das Wissen, Grossvater zu sein, wird langsam zum Gefühl. Aber ich stammle noch, wenn ich gefragt werde, wie genau es sich anfühlt. Er macht mich älter, und er tröstet zugleich. Gewissheit greift Platz, dass die Welt sich weiter dreht. Der Gedanke, dass ich nur die Mitte meiner Welt bin, wird nach und nach zur Entlastung.

Es gibt keine Formen dazu. Zu allen möglichen Lebensereignissen wird gratuliert, aber zur Geburt des ersten Enkels – da herrscht oft leise Unsicherheit. Es ist, als hätte es etwas Intimes, vielleicht überaus Familiäres. Es ist, als sei man unsicher, ob ich wirklich zu beglückwünschen sei. Aber es gibt auch die anderen, spontanen Reaktionen der Freude, manchmal überschwengliche, gerührte, manchmal hoch reflektierte. 

Nach sechzig

Neues Lebens-Gefühl: Zufriedenheit mit mir, mit meinen Liebsten und mit der Welt, so schwierig sie ist. Grosse Dankbarkeit auch, in die beste Zeit und die beste Ecke dieser schwierigen Welt geboren worden zu sein.
Es war … bzw. wir haben es uns verboten gehabt, jahrzehntelang, in Frieden zu sein. Es war unsere Aufgabe gewesen, auf das Böse hinzuweisen, das Böse auf der Welt, das Böse am System. Das Schlimme. Als Söhne und Töchter einer im sog. „Fortschritt“ taumelnden Generation, die oft verdrängte, was zu verdrängen lebensnotwendig war, mussten wir alles aufdecken, alle faulen Kompromisse und Selbsttäuschungen, alle Illusionen über die Machbarkeit.
Jetzt kommt es plötzlich, mit Macht, das heftige Bedürfnis nach Versöhnung. Ideologien, innere und soziale Denkverbote sind weitgehend gefallen. Es ist, als breche sich ein Gefühl Bahn, dass ich zurückgehalten habe, das aber zum Ausgleich meines Innenlebens notwendig ist und womöglich schon lange gewesen wäre.

Sechzig??

60 Jahre Zeit hätte ich gehabt, es auszurechnen – und doch bin ich überrascht, dass es nun so weit sein soll. Meine Grossmütter waren mit 60 in meinen kindlichen Augen zwei uralte Frauen. Ich erinnere sie in Schwarz.
Es gibt etwas, das sich wie Trauer anfühlt. Trauer über gelebtes Leben, und auch über das nicht Gelebte.
Aber es gibt auch das Eingeständnis grosser, zunehmender Dankbarkeit.
Denn immer wieder fand mich das Glück.

Satt

Es gibt nichts Satteres als diese Mitte Europas, die aber nicht richtig dazugehören will, und wer satt ist sehnt sich weg; wer hungrig, hin.
Es ist wie Kochbuchlesen mit vollem Bauch; es inspiriert nicht, Widerwille und Unlust sind die Empfindungen. Wer begeistern will muss lügen und tut es auch. Weil es mangelt an Begeisterung.

Workshock??

Ich habe sie mir schlimmer vorgestellt, die Rückkehr in die Normalität. Schmerzhafter, widerwilliger. Erleichtert, ich muss es zugeben, wird sie dadurch, dass ich da und dort vermisst wurde – das rührt mich und macht mich schwach. Aber auch durch Routinen, die sofort wieder einrasten, bis hin zu einzelnen Bewegungsabläufen. Sie werden, scheint es, nicht vom Gehirn memoriert, sondern vom peripheren Bindegewebe. Nicht ich erinnere die alltägliche Bewegungsabläufe (ich könnte sie auch nicht beschreiben), es sind meine Glieder und Finger die wissen, wie das Fahrradschloss geöffnet, wie die Kaffeemaschine in Gang gesetzt oder der Computer gestartet wird.
So gleite ich fast merklos in meine alten Wege, in meinen Alltag zurück. Gehöre ich bald wieder ganz dazu, wird bald schon mein Time-out nichts als Geschichte sein?

Spürbare Spuren hinterlässt der fast halbjährige Break beim Energieaufwand, den das Ertragen erfordert. Die Erinnerung an Stimmungslagen in Arbeitsbesprechungen, in Teamsitzungen und Gremien, diese Vertrautheit mit kulturspezifischen Befindlichkeiten, sie lässt plötzlich wieder Gelassenheit zu. Stilles Staunen, was alles unverändert koexistiert auf dieser weiten Welt. Und innere Distanz auch dort, wo Handlungsdruck äussere nicht zulässt.
Die freiwerdende Energie, vorher in den Posen von Empörung und Ärger gebunden, sie steht mir wieder zur Verfügung. Sie ist mein Reservetank.

Ob ich mit neuen Ideen zurückgekommen sei? Als neuer Mensch gar? Wer das fragt, erinnert sich nicht daran, dass ich schon bevor ich ging Ideen auf Halde produziert habe und dass nicht alle genehm und bequem waren.
Aber – das stimmt – sie fliessen wieder freier, meine Ideen. Ungehemmter, seit mein Reservetank wieder gefüllt ist.

Und seit ich vergessen durfte, wie zähflüssig diese Welt doch ist.